Eine beliebte Frage von Menschen, die einen Flugbegleiter zum ersten Mal treffen ist: “Hast Du denn schon einmal etwas Schlimmes erlebt?” Hier erwarten die meisten wohl Berichte von Notlandungen oder wirklich heftigen Turbulenzen. Ich für mich kann aber sagen, dass ich in den vielen Jahren, die ich schon bei Lufthansa arbeite, technisch gesehen noch keine gravierenden Zwischenfälle erlebt habe. Der größte Anteil von herausfordernden Situationen lag eher im medizinischen Bereich. Von Zahnschmerzen bin hin zu Nierensteinen gab es immer mal die ein oder andere Situation mit erkrankten Fluggästen.
Damit wären wir auch schon beim heutigen Thema des Blogs: Erste Hilfe. Unser Flugbegleiterlehrgang 1912 hat wieder einen Teil der Ausbildung absolviert. Es standen nämlich zwei Tage Erste-Hilfe-Training auf dem Stundenplan. In diesen zwei Tagen ging es einerseits um die gesamte medizinische Ausrüstung, die wir an Bord unserer Flugzeuge zur Verfügung haben, und natürlich auch um die richtige Vorgehensweise bei medizinischen Notfällen an Bord. Das Training darf man sich jetzt aber nicht wie eine medizinische Vorlesung an der Uni vorstellen, bei der nur theoretisches Wissen vermittelt wird, der Schwerpunkt liegt mehr auf der Praxis und der konkreten Hilfe bei medizinischer Hilfeleistung an Bord. Und auch der Spaß kommt beim Erste-Hilfe-Training nicht zu kurz.
Für das Erste-Hilfe-Training holt sich Lufthansa Unterstützung durch Profis ins Haus: Das Erste-Hilfe-Training wird von der Firma Medifan durchgeführt. Alle Trainer von Medifan sind erfahrene Mitarbeiter aus dem Rettungsdienst oder auch Pflegekräfte mit einer Ausbildung in Intensivmedizin. Wer sich gerne noch intensiver über Medifan informieren möchte, dem empfehle ich auf der Website von Medifan vorbeizuschauen.
Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, mit Marko (Teamleiter bei Medifan) zu sprechen. Mit ihm habe ich mich über die Herausforderungen des Erste-Hilfe-Trainings im Rahmen der Flugbegleiterausbildung bei Lufthansa unterhalten.
Marco: Bisher waren meine Interviewpartner im Be-lufthansa Blog ja immer Lufthansakollegen. Heute ist das etwas anders, denn ich spreche mit Marko von Medifan. Medifan ist nämlich für die gesamte Erste Hilfe Aus- und Weiterbildung der Flugbegleiter bei Lufthansa zuständig.
Marko: Das stimmt. Vor 18 Jahren hat sich Lufthansa entschieden, das Erste-Hilfe-Training von externen medizinischen Profis durchführen zu lassen.
Marco: Heute bist Du mein erster Interviewpartner ohne fliegerischen Hintergrund. Offensichtlich kommst Du ja aus dem medizinischen Bereich. Kannst Du mir etwas zu Deinem beruflichen Werdegang erzählen und wie Du letztendlich hier bei Medifan gelandet bist und jetzt uns Flugbegleiter in Sachen Erste Hilfe ausbildest?
Marko: Ich habe vor vielen Jahren als Zivildienstleistender im Rettungsdienst angefangen und fand es von Anfang an toll, anderen Menschen das Leben zu retten. Nach den 18 Monaten Zivildienst wollte ich mehr über Medizin erfahren, ein Medizinstudium kam für mich aber nicht in Frage, da ich mir meine beruflichen Möglichkeiten offenhalten wollte. Aus diesem Grund habe mich dann dazu entschieden, eine Ausbildung zum Krankenpfleger zu machen. Ich konnte mir dann sehr schnell einen Wunsch erfüllen und bin an eine große Klinik in Mainz gewechselt und arbeite dort auf einer Intensivstation in der Herzchirurgie. Mich hat dieses hochtechnisierte Arbeitsumfeld sehr gereizt und deshalb habe ich auch eine zweijähre Weiterbildung zum Fachpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin absolviert. Ich habe dann auch sehr schnell angefangen, an der Uniklinik Trainings in Notfallmedizin für andere Mitarbeiter durchzuführen. So bin ich dann immer mehr im Trainingsbereich gelandet. Irgendwann bin ich dann auf Medifan aufmerksam geworden. Die innovative Art zu trainieren hat mich angesprochen und ich bin froh, dass ich bei Medifan als Trainer anfangen konnte. Ich fand es spannend, einen Einblick in ein völlig anderes Arbeitsumfeld zu bekommen, nämlich die Fliegerei. Aufregend ist vor allem die Herausforderung, wie die medizinische Versorgung an Bord von Flugzeugen funktioniert. Mittlerweile liegt mein Schwerpunkt bei der Arbeit für Medifan und die Arbeit in der Klinik habe ich deutlich reduziert. Inzwischen bin ich bei Medifan sogar Teamleiter geworden und bin mitverantwortlich für die Entwicklung der Erste-Hilfe-Ausbildung bei Lufthansa.
Marco: Wie sieht denn Dein typischer Arbeitstag als Trainer bei Medifan aus? Oder gibt es vielleicht gar keinen typischen Arbeitstag?
Marko: Eigentlich gibt es bei mir zwei typische Arten von Arbeitstagen: Wenn ich ein Training gebe, ist mein Tag natürlich vorgeplant und richtet sich nach dem Stundenplan des Trainings. Es gibt ja verschiedene Trainings, die wir bei Lufthansa durchführen. Da gibt es das Training für die neuen Flugbegleiter während des Grundkurses, es gibt die jährlichen Trainings für alle Flugbegleiter oder auch die Erste-Hilfe-Ausbildung für die Purser. Der Trainingstag startet immer mit dem Vorbereiten des Lehrsaals und dem Bereitstellen des Unterrichtsmaterials. Wir arbeiten ja im Training mit der Originalausrüstung von Bord. Die Trainigstage sind sehr durchgetaktet und viele Themen werden besprochen. Mein Ziel ist, dass alle Kolleginnen und Kollegen gut vorbereitet und in Sachen Erste Hilfe handlungsfähig an Bord gehen und natürlich auch, dass sie alle unseren Abschlusstest bestehen. Mein anderer typischer Arbeitstag ist: Büro, da nehme ich mir immer viel vor und meist gibt es dann doch tagesaktuelle Anliegen, um die ich mich dann kümmern muss.
Marco: Lass uns mal einen genaueren Blick auf das Erste-Hilfe-Training bei Lufthansa werfen. Warum gibt es überhaupt Erste Hilfe für die Flugbegleiter der Lufthansa, passiert denn an Bord so viel?
Marko: Grundsätzlich schreibt der Gesetzgeber vor, dass alle Flugbegleiter in Erste Hilfe ausgebildet sein müssen. Das Luftfahrtbundesamt und die EASA geben hier den Rahmen vor. Am Ende des Trainings wird dann eine offizielle Lizenz erteilt, die bescheinigt, dass die Flugbegleiter eine fundierte Erste-Hilfe-Ausbildung besitzen. Lufthansa hat natürlich auch noch Erwartungen an unser Training. Die Ausbildung soll so sein, dass eine gute Erste Hilfe auf allen Flugzeugmustern und auf dem Weg zu allen Destinationen stets gewährleistet ist. Im Schnitt gibt es bei Lufthansa ca. 7.000 medizinische Vorfälle im Jahr, bei denen die Flugbegleiter Erste Hilfe leisten. Das sind pro Tag ungefähr 20 Vorfälle. Momentan führt Lufthansa durchschnittlich 1.700 Flüge pro Tag durch. Also kann man sagen, dass es auf ca. 1,1% der Flüge zu einem medizinischen Ereignis kommt.
Marco: Kommen wir mal zum Flugbegleitergrundkurs. Was passiert denn in den zwei Tagen während des Erste-Hilfe-Trainings? Was haben denn unsere Trainees erlebt?
Marko: Vorweg kann ich schon einmal sagen: Eine sehr große Menge. Wir müssen in diesen Tagen sehr viele Themen unterbringen. Das Training sieht so aus, dass sich die Teilnehmer mit allen Aspekten beschäftigen, die jene Passagiere betreffen, die nicht mehr bei Bewusstsein sind. Da geht es dann um Themen wie stabile Seitenlage und die Reanimation. Dazu kommt dann noch das Kennenlernen der gesamten Bordausrüstung inklusive der Handhabung des Defibrillators. Aber auch Themen wie Hygiene, Kindernotfälle und die Geburt zählen zum Programm des ersten Tages.
Marco: Wie gelingt es Euch denn, dass die Flugbegleiter an Bord bei medizinischen Notfällen die richtigen Entscheidungen treffen?
Marko: Dazu benutzen wir das so genannte “FORDEC-Modell.” Fordec ist ein Modell, wie man unter großem Stress trotzdem eine gute und schnelle Entscheidung treffen kann. Dieses Modell stammt ursprünglich aus dem Cockpit, findet sich nun auch bei der Erste Hilfe wieder. Jeder Buchstabe von Fordec steht für einen bestimmten Schritt auf dem Weg zur richtigen Entscheidung. Die einzelnen Buchstaben bedeuten: F = facts, O = options, R = risks/benefits, D = decision, E = execute und C = check. Zusammengefasst lässt sich das so erklären: Nach der Sammlung der Fakten (facts) stehen uns verschiedene Handlungsmöglichkeiten (options) zur Verfügung. Jede dieser Möglichkeiten hat bestimmte Vor- und Nachteile (risks/benefits.) Auf dieser Grundlage treffen wir dann eine Entscheidung und führen die entsprechende Maßnahme durch (decision & execute). Im Anschluss schauen wir genau auf das Ergebnis dieser Maßnahme (check) und bewerten die Situation gegebenenfalls neu. Auf den ersten Blick hört sich das jetzt ziemlich komplex an, ist aber wirklich eine gute Sache, denn mit Fordec kann man schnell zu guten Entscheidungen kommen.
Marco: Der erste Tag klingt sehr spannend aber auch sehr anspruchsvoll. Wie sieht denn das Programm am zweiten Tag aus?
Marko: Der zweite Tag ist nicht weniger vollgepackt. Vormittags geht es los mit den drei Organsystemen: Herz, Lunge und Gehirn. Das passiert im Rahmen einer Gruppenarbeit. Dabei sollen die Flugbegleiter aber nicht medizinisches Fachpersonal werden, sondern für sich ein Ablaufschema mit Fordec entwickeln, also, wie sie bei Fehlfunktionen der verschiedenen Organsysteme reagieren. Das heißt, Tag zwei ist vor allem geprägt von Situationen, die den nicht-bewusstlosen Passagier betreffen. Am Vormittag werden die theoretischen Grundlagen geschaffen, um dann am Nachmittag das gelernte Wissen in verschiedenen Fallbeispielen anwenden zu können. Diese Fallbeispiele üben wir dann auf den verschiedenen Kabinenatrappen in der Simulatorhalle. Der Trainer spielt in diesen Simulationen den kranken Gast und die Teilnehmer müssen als Crew agieren. Der Tag endet dann mit dem Abschlusstest und der Erteilung der Lizenz.
Marco: Wie erlebst Du denn unsere Grundkursteilnehmer, die normalerweise ja mit Erster Hilfe in ihrem bisherigen Leben noch nichts zu tun hatten und vielleicht auch nicht damit gerechnet haben, dass sie während ihres Lehrgangs auch in diesem Bereich ausgebildet werden?
Marko: Gerade die jüngeren Teilnehmer haben vielleicht erst kürzlich einen Erste-Hilfe-Kurs für ihren Führerschein absolviert. Sie rechnen jetzt eher mit einer Wiederholung und sind dann überrascht, wie intensiv wir hier trainieren und dass im Flugzeug manches anders ist als am Boden. Generell sind die Teilnehmer sehr wissbegierig, begeistert und motiviert. Wir haben immer ein sehr schönes Training miteinander und die Teilnehmer nehmen sehr viel mit. Auch in dem Bewusstsein, dass sie eventuell auf einem ihrer nächsten Flüge das Gelernte anwenden müssen.
Marco: Gibt es denn irgendein Thema während den zwei Tagen, welches für die Teilnehmer eine besondere Herausforderung darstellt?
Marko: Das gibt es tatsächlich, und zwar das Thema Geburt an Bord. Letztes Jahr hatten wir seit vielen Jahren einmal wieder eine Geburt auf einem unserer Langstreckenflüge. Das Baby, das auf dem Flug von Bogotá nach Frankfurt auf die Welt kam, ist gesund und munter. Die Geburt verlief ohne Komplikationen. Die Crew wurde auch durch mehrere Ärzte, die sich an Bord befanden, unterstützt. Das ist genau das, was wir versuchen während des Trainings zu vermitteln, nämlich dass die Geburt ein natürlicher Vorgang ist, der selten zu Komplikationen führt. Die Teilnehmer werden von uns so vorbereitet, dass sie auch als Laien mit wenigen vorbereitenden Maßnahmen die werdende Mutter unterstützen können. Trotz allem bleibt die Geburt ein Thema, mit dem sich unsere neuen Flugbegleiter nicht so gerne auseinandersetzen, da geht es häufig um das Thema Schamgefühl. Mittlerweile haben wir aber gute Methoden gefunden, um das Thema gut zu behandeln.
Marco: In meinen bisherigen Blogbeiträgen zur aktuellen Flugbegleiterausbildung habe ich auch immer nach dem Neuen und Innovativen im Grundkurs gefragt. Was macht Ihr denn, um das Erste-Hilfe-Training auf dem neuesten Stand zu halten?
Marko: Wir passen das Erste-Hilfe-Training immer in einem zweijährigen Rhythmus an. Der nächste Trainingszyklus beginnt im Januar 2019. Diese Updates betreffen nicht nur den Flugbegleitergrundlehrgang, auch die jährlichen Auffrischungschulungen werden ebenfalls aktualisiert und aufeinander abgestimmt. Beispielsweise sind wir gerade daran zu überlegen, wie wir das Cabin Mobile Device in unsere Trainings integrieren können. Und natürlich reagieren wir auch auf medizinische Veränderungen. Was das angeht, arbeiten wir sehr eng mit dem medizinischen Dienst der Lufthansa zusammen, um da immer auf dem aktuellen Stand zu sein.
Marco: Eine Frage hätte ich noch: Was ist denn das Witzigste, das Dir bisher im Erste-Hilfe-Training passiert ist?
Marko: Ich erinnere mich an eines der jährlichen Wiederholungstrainings für Flugbegleiter: Die Teilnehmerin wollte während der Pausen gezeigt bekommen, wie man einen bewusstlosen Gast durch die Kabine transportieren kann. Ich kannte da einen guten Trick, den ich der Kollegin demonstrieren wollte. Plötzlich hörte ich ein lautes “Ratsch” und ich hatte die ganze Hose der Kollegin in der Hand und sie hatte natürlich keine Hose zum Wechseln dabei. Irgendwie konnten wir dann aber doch Ersatz beschaffen. Mir war das sehr peinlich, auch wenn es schon lange her ist, habe ich dieses Bild immer noch vor Augen.
Marco: Lieber Marko, ich bedanke mich für Deine Zeit und den Einblick in die Erste Hilfe.
Im nächsten Blog nehme ich euch mit zum CRM-Training von Flugbegleiterlehrgang 1912. Jetzt fragt ihr euch vielleicht: CRM was ist das? Die Abkürzung CRM steht für “Crew Ressource Management” und was das genau ist, erfahrt Ihr im nächsten Blog.
Falls ihr die bisherigen Blog-Beiträge noch einmal nachlesen möchtet, habe ich hier für euch die Links:
– Die Flugbegleiterausbildung bei Lufthansa Teil 1: “Welcome to Lufthansa”
– Die Flugbegleiterausbildung bei Lufthansa Teil 2: “Blick hinter die Kulissen”
– Die Flugbegleiterausbildung bei Lufthansa Teil 3: “SEP-Training”